Ein gestelltes Foto (2009) zeigt das Schießen in der Form kazuya (Kriegsschießen auf ca. 30 Meter Entfernung - Johannes Maringer, 4. Dan), warihiza (Schießen im Kniestand - Günter Dauner, 5. Dan) und die Form des Schießens im Stand (rissha - Reinhard Kollotzek, 5. Dan).
Im Kyudo gibt es verschiedene Stilrichtungen, die ihren Ursprung im höfischen, zeremoniellen Schießen, dem Schießen zu Pferd (Yabusame) oder dem Kriegsschießen (Kazuya, Koshiya) der Fußsoldaten haben. Den letzteren Stil der Heki Ryu Insai Ha (Bezeichnung einer wesentlichen Stilrichtung) hatte der Bundestrainer Geshiro Inagaki (1911-1995), 9. Dan-Hanshi (Hanshi ist der höchste, zu verleihende Ehrentitel und meint: „in Person und Kunst ein Beispiel für andere“), vor 40 Jahren in Deutschland bekanntgemacht. Daher wird diese Form auch von den meisten deutschen Schützen geschossen. In vielen japanischen Universitäten und auch z. B. in Frankreich und wenigen deutschen Dojos (Übungsstätten) wird eine für Eingeweihte in mehreren Details deutlich andere Stilrichtung (Osagawara-Schule aus dem 13. Jahrhundert: das zentrale Emporheben des Bogens – Shomen-Stil) ausgeübt.
Der gesamte Bewegungsablauf des Kyudo-Schießens besteht aus folgenden 8 Phasen (Hassetsu), die zum Teil bei den verschiedenen Stilrichtungen noch weiter oder leicht anders unterteilt werden (3/4 oben: Shomen - 3/4 unten: Shamen/Heki):
(c)ANKF
1 Ashi-bumi fester Stand, Fußstellung
2 Dozukuri korrekte Position des Körpers
3 Yugamae Vorbereiten des Bogens
4 Uchiokoshi Anheben des Bogens
5 Hikiwake Ziehen des Bogens (sanbun no ni – zweite von drei Positionen)
6 Kai Vervollständigen der Bogenspannung (nobiai)
7 Hanare Lösen des Schusses
8 Zanshin Ausklang der Schussbewegung (=„Zustand des Geistes“)
[und Yudaoshi Zurücknehmen des Bogens]
In einer vorgeschriebenen Art tritt der Schütze mit Bogen und zwei Pfeilen an die Schusslinie und nimmt seine Position (Ashi-bumi) so ein, dass eine gerade Linie die pfeilweit auseinandergestellten Zehen mit der Zielscheibe (Mato) direkt verbindet. Der Körperschwerpunkt liegt in der Mitte zwischen beiden Füßen. Der Schütze steht aufrecht, die senkrechte Körperachse schneidet rechtwinklig die Schulter-, Becken-, und Standebene.
Nach einer wieder bis in die kleinste Bewegung vorgeschriebenen Weise (die Einzelheiten würden hier stören) nimmt der Schütze den Bogen vor sich, legt einen Pfeil auf und beendet diese Vorbereitung mit der Überprüfung der korrekten, aufrechten Position (Dozukuri). Dabei hält er schließlich den Bogen so, dass das untere Ende am linken Knie anliegt, der Bogen wird mit der linken Hand am leicht angewinkelten Arm, der Pfeil mit dem Zeigefinger gehalten (sonst würde er herunterfallen, denn der Pfeil wird nicht auf der Seite des Handgelenkes aufgelegt), die Spitze des Bogens zeigt schräg nach vorne, dabei liegt der Nockpunkt vor dem Brustbein. Die rechte Hand hält zwischen Ring- und kleinem Finger einen zweiten Pfeil. Die Fuß-, Hüft- und Schulterachsen verlaufen genau waagerecht und parallel zum Boden. Der Stand ist ruhig und völlig harmonisch.
Dozukuri:
Die richtige Balance
Der Bogen wird zum Schuss vorbereitet (Yugamae), indem die Bogenhand den richtigen Griff einnimmt und kontrolliert, die Zughand mit dem Handschuh die richtige Position findet. Um die Drehkraft auf den Bogen zu übertragen, die erforderlich ist, um das fehlende Schussfenster auszugleichen, wird der Bogen etwas von links gegriffen, die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger fest angedrückt und der kleine Finger eng bis zur vorderen Innenkante um den Bogen gelegt. In der Ausführung dieser und der nächsten Phase unterschieden sich die zwei wichtigsten Kyudo-Schulen.
Torigake - Tenouchi:
Griff der Sehne, des Bogens
Die Heki-Schule (Shamen-Stil, zielgerichtetes Uchi-okoshi, sehr zielbetont) nimmt den Bogen unter leichter Spannung leicht links vom Körper, die Osagawara-Schule (Shomen-Stil, zentrales Uchi-okoshi, sehr stilbetont) direkt vor dem Körper hoch.
Monomi:
Erfassen des Ziels mit den Augen
Der Bogen wird langsam bis etwa in Scheitelhöhe gehoben (Uchi-okoshi), „als wenn Rauch aufstiege“. Dabei wird eingeatmet. Der Atem muss bis nach der Schussabgabe reichen.
Der Bogen wird langsam aufgezogen (Sanbun-no-ni/Hikiwake) bis die linke Hand gestreckt in Höhe der Nase, die rechte eine Faustbreit vor der rechten Schläfe ist. Dabei wird fast völlig ausgeatmet. Der Bogen ist voll ausgezogen (Tsumeai), die Position der Schultern ist gefestigt. Das Ziel ist anvisiert, der Pfeil liegt in Höhe der Nase an der Wange an. Die Sehne berührt den Oberkörper (Bauch/Brust). Der rechte Ellenbogen liegt etwas hinter der Schulterlinie. Nur noch wenig Restluft ist vorhanden.
Uchiokoshi:
Anheben des Bogens (shamen-uchiokoshi)
Aus der Mitte heraus sollen die Kräfte ausbalanciert in alle Richtungen wachsen (Nobiai/Kai). Ausgeatmet können die Kräfte des Ober- und des Unterkörpers vereint werden. Der linke Arm drückt die rechte Bogenkante weiter zum Ziel, die rechte Hand wird aus dem Ellenbogengelenk nach innen gedreht.
Der aufgrund seiner Bauart seitlich „krumme und verdrehte“ Bogen wird im Verlaufe des Spannens bis über das Auslösen hinaus im Griff bis zu 15 Grad gegen den Uhrzeigersinn verdreht. Nur so gelingt ein gerader Abschuss und problemloser Pfeilflug:
1) beim tenouchi/Vorspannung - 2) beim sanbunnoni - 3) beim nobiai/hanare
Kai:
Voller Auszug des Bogens, Erhöhung der Rückenspannung
(Das "Knochengerüst")
dann ... Hanare:
Lösen des Schusses
Durch das Drehen der rechten Hand nach außen unter Verstärken des Druckes auf die rechte Bogenkante löst (Hanare) sich der Schuss „absichtslos“.
(c) K. Giebel, Lübeck
Die wichtigen Punkte sind eingezeichnet: Daumengrundgelenk in gerader Linie des Unterarms; Daumen in engem Kontakt mit dem Mittelfinger; Mittel-, Ring- und kleiner Finger liegen parallel und eng nebeneinander, um einen möglichst optimalen und festen Kontakt mit dem Bogengriff herzustellen. - Je nach Griffstärke des Bogens, Fingerdicke, Fingerlänge und der unterschiedlichen Kraft einzelner Finger kann der Griff nach Anweisung des Trainers geringfügig verändert werden (vgl. Tenouchi von Inagaki-Sensei). Zwischen Mittelfinger und Daumenballen muss bis zum Abschuss ein kleiner Zwischenraum bleiben.
Das eingezeichnete „Kräfteparallelogramm" macht den Unterschied zum bekannten „Bogenschießen wie Robin Hood" deutlich. Bevor ständig auf weitere Entfernung geschossen wird, müssen diese waagerechten Linien und die Körpersenkrechte am Makiwara erarbeitet worden sein. Daher kann man das Makiwara in der Höhe dem Schützen anpassen.
Direkt beim Abschuss streckt sich die Sehne, wobei der untere, kürzere Teil deutlich schneller beschleunigt wird. Das Foto zeigt dies, der untere Wurfarm ist nur verwischt dargestellt. Der Pfeil hat sich in ca. 1/200 Sekunde um ca. 20 cm nach vorne bewegt, der untere Bogenarm ist deutlich, der obere aber nur um wenige Zentimeter weiter nach vorne geschnellt. - Heki: Diese „ungleiche" Beschleunigung muss durch die besondere Grifftechnik (tenouchi) und den Druck mit dem linken Daumen auf die rechte Bogenkante entgegengewirkt werden. Der kleine Finger „stoppt" gleichzeitig den unteren schnellen Wurfarm. - Der Bereich um den Griff bleibt beim Abschuss nahezu ruhig.
Der Bogen schlägt um, die Sehne berührt die Außenseite des linken Unterarms (Yugaeri).
Zanshin:
zurückbleibende Haltung der Ausgewogenheit
Die linke Hand ist gestreckt, die rechte leicht gebeugt in Schulterhöhe. Die richtige Endform (Zanshin) kommt nur bei einem korrekten Schuss zustande. Das bedeutet zugleich, aus einer Abweichung kann auf Schussfehler geschlossen werden.
TIPP: Ein Kyudo-Zuschauer kann durch aufmerksames Betrachten der Pfeilspitze beim Aufziehen des Bogens feststellen, ob die Spannung zwischendurch nachlässt, - und an der kurzen, schnellen Bewegung der oberen Bogenspitze nach vorne erkennen, ob der Schütze die Kraft lange genug bis nach dem Abschuss korrekt beibehalten hat. Die Trefferlage kann anschließend festgestellt werden. Daher sieht man immer auf den Schützen, nicht auf das Ziel...
Nach dem Schuss wird die Bogenspitze auf kürzestem Weg nach vorne gebracht (Yudaoshi), die rechte Hand an die rechte Hüfte gelegt, der Blick vom Ziel auf etwa drei Meter vor die Füße des Schützen zurückgenommen. Die Restluft wird ausgeatmet, neu eingeatmet.
Da die Bewegung im Abschuss so schnell vor sich geht, benötigt der Schütze einen guten Lehrer, der ggf. den wesentlichen Bewegungsfehler erkennen und die entsprechende Korrektur geben kann. Der Pfeil wird blitzartig auf fast 200 km/h (50 m/sec) beschleunigt und löst sich schon nach ca. 0,03 Sekunden von der Sehne.
Fotos: Peter Kollotzek (3. Dan Kyudo, 2. Dan Judo)
Ausführender Schütze: Reinhard Kollotzek (5. Dan Kyudo)
Weitschießen/Enteki - Okayama 1935: ca. 60 Meter weit entfernt steht die Scheibe...